Quantcast
Viewing all articles
Browse latest Browse all 54

Schau mir in die Scheinwerfer

Schauen Sie mal hin, meine Damen und Herren, auf das Bild oben, was ich speziell für Sie aufgenommen habe, auf der Fahrt zum In-N-Out Burger in Barstow, Kalifornien: Sehen Sie da ein Gesicht? Ja? Gut. Die Sache ist nämlich die: Des Menschen Fähigkeit, Gesichter schnell zu erfassen und zu deuten, hat sich im Laufe der Evolution als Überlebensvorteil herausgestellt. Um Gefahren zu vermeiden oder auch Chancen zu realisieren, nutzen wir jede Gelegenheit, Gesichter zu erkennen. Auch dort, wo eigentlich keine sind: das Knie einer Frau kann zum Beispiel aussehen wie das Gesicht von Kanye West (die Arme). Davon leben wundervolle Twitter Accounts. Und in unserer herrlich beschleunigten Populärkultur wird es sicher bald schon ein Wort für diese Aktivität geben: ein Gesicht im Unbelebten zu erkennen und das Ganze zu photographieren und über soziale Netzwerke zu veröffentlichen. «Facing»? Schon vergeben.

Die Sicht des Menschen ist also derart beschaffen, dass sie auch in vielen unbelebten Dingen Lebewesen erkennt (weil das ein Überlebensvorteil ist: lieber einmal ein Gesicht zuviel sehen als eins zu wenig) und diese in sozialen Dimensionen betrachtet und beurteilt. Ein famoses Beispiel dafür ist das Automobil. Seit jeher haben Autos Gesichter: Augen (= Scheinwerfer) und Symmetrie reichen für die menschliche Wahrnehmung aus, um ein Gesicht zu konstruieren, weil das Gehirn so konditioniert ist. Studien zeigen, dass die Frontansicht eines Autos oft als Gesicht wahrgenommen wird. Dabei sind die Scheinwerfer also die Augen und der Kühlergrill bildet die Nase-/Mundpartie. Also nicht ganz wie bei Disneys «Cars».

Karossen mit Kindchenschema

Autos haben ein Gesicht. Und das löst Emotionen aus. Emotionen, die das Autokaufverhalten, die Fahrweise und die Identifikation mit dem fahrbaren Untersatz beeinflussen können. Zunächst aber wird aufgrund von Ausdruck und Proportion des Autogesichts unmittelbar auf das Auto selbst zurückgeschlossen: dem Wagen werden Eigenschaften unterstellt. Das funktioniert zum Beispiel anhand des sogenannten Kindchenschemas: Kinder haben relativ grosse Augen, eine grosse Stirnregion und eine kleine Nase. Gesichter mit diesen Proportionen werden sofort als «Kinder» wahrgenommen und lösen bei den Betrachtern Fürsorgeverhalten aus. Fahrzeuge mit runden Scheinwerfern und hoher, senkrecht stehender Windschutzscheibe werden dementsprechend überwiegend als «kindlich» und «freundlich» wahrgenommen – und passenderweise handelt es sich dabei regelmässig um Kleinwagen. Jedenfalls war das früher so. Der VW Käfer! Oder denken Sie mal an den Renault Twingo. Aww!

Jedenfalls den Twingo der ersten Generation. Der Twingo der zweiten Generation ist ein schönes Beispiel dafür, wie auch im Kleinwagensegment, wo die kindlichen Gesichter bis dato angesiedelt waren, längst ein Wandel zu einem eher maskulinen Gepräge der automobilen Minen eingesetzt hat. Wir werden darauf zurückkommen. Früher jedoch waren Autogesichter vor allem: neutral. Ein prominentes Beispiel für so ein neutrales Gesicht, was sich in zahlreiche Kontexte einfügen kann, ist die sehr erfolgreiche Mercedes Baureihe W114/115, produziert von 1967 bis 1976. Derart indifferente Minen im Rückspiegel sind heute eher selten. Es gilt heutzutage als empirisch hinlänglich gesichert, dass Autos mit breiter Front, schmaler Windschutzscheibe und/oder weit auseinanderliegenden schmalen Frontlichtern am meisten geschätzt werden. Derartige Karossen charakterisieren Männer wie auch Frauen als Autos mit den Eigenschaften «erwachsen» und «maskulin» und «dominant».

Autos müssen Ausdruck haben

Es vollzieht sich hier ein gestalterischer Wandel, eine Art plastischer Chirurgie im Automobildesign vom Gesicht zum – Ausdruck: die Scheinwerfer zeigen mehr und mehr (und zwar in jeder Fahrzeugklasse) den sogenannten Falkenblick (angeschrägt und grimmig; oft unterstützt durch eine LED-Linienführung, die den Wiedererkennungswert der Marke im Dunkeln erhöhen soll) und dazu wartet die Kühlerlinie zusätzlich oft mit quasi heruntergezogenen Mundwinkeln auf. Entscheidend ist jedenfalls die Kombination aus schmalen Scheinwerfern und einem grossen Kühlergrill. Ein Hersteller aus Ingolstadt hat hier Wegmarken gesetzt; inzwischen kann man gelegentlich im Strassenbild schon beinahe von einer Überbetonung beziehungsweise Überstrapazierung der Gesichtsmetapher sprechen, nicht bloss von einer richtiggehenden Mimik, sondern gar von karikierender Überzeichnung der dominanten Visage, wenn selbst Kompaktwagen wie der Chevrolet Spark einen Zerstörerblick aufsetzen. (Übrigens, dies nur am Rande: Auch der böseste Blick hilft nur bedingt, wenn das Auto in Pastellgelb oder Korallenpink daherkommt. Das Ganze sieht dann höchstens aus wie eine wütende Barbara Cartland. Oder ein schlecht gelauntes Baby.)

Alles sieht danach aus, dass beim gegenwärtigen Stand der Popkultur der kraftvolle, respekteinflössende Ausdruck beim Autogesicht den grösseren Anklang und Absatz findet. Statt «erwachsen» und «dominant» könnte man einen derartigen Auftritt natürlich auch «aggressiv» nennen. Da Aggressivität nun nicht notwendig eine Eigenschaft ist, die auch beim Menschen attraktiv wirkt, kann man sich mit Fug und Recht fragen: Wieso dann beim Auto? Nun, wahrscheinlich weil die Automobilisten Grund haben, davon auszugehen, dass ein böse blickendes Auto respektvoller behandelt wird als eins mit unschuldig-kindlichem Antlitz. Und dass, in einem nächsten Schritt, sich die derart wahrgenommenen Eigenschaften des Wagens auf den Fahrer übertragen: Wer selbst gerne stark und dominant wäre, kauft sich eben ein böses, einschüchterndes Auto. Oder least es wenigstens.

Oder ist das alles zu pauschal? Und geht es bei einem Autogesicht nicht vielmehr darum, welche Emotionen wir erleben, wenn wir es ansehen, ob wir es mögen oder eindrücklich finden und deswegen haben wollen? Emotionen sind schliesslich ein wichtiger Grund für den Erwerb eines spezifischen Automobils. Und vielleicht ist dieser Umstand ein Grund für die zweite zu beobachtende Tendenz in der Gestaltung automobiler Gesichter: dass sich die Autos immer ähnlicher sehen. Und damit meine ich durchaus nicht: gleich aggressiv oder dynamisch, sondern: gleich langweilig. Denken Sie nochmal an die sechziger Jahre: dort waren die Gesichter neutraler, aber Individualität stand hoch im Kurs bei der automobilen Gestaltung, weil das Automobil gesellschaftlich eben vor allem als Ausdruck und Repräsentation der individuellen Freiheit verstanden wurde, und die Folge war eine Welle zwar massenproduzierter, aber sehr individueller Autogesichter, besonders in den Vereinigten Staaten: Ford Mustang, Lincoln Continental, Dodge Challenger, Chevrolet Corvette, Cadillac Fleetwood.

Und heute? Ist es schwer, sich vorzustellen, dass irgendein Gesicht aus der Massenproduktion mal zum Klassiker wird. Bis auf wenige Ausnahmen. Eine davon ist schon ein Klassiker, seit 50 Jahren mehr oder weniger unverändert: der Porsche 911. Der ist auch deswegen eine Klasse für sich, weil er beweist, dass Sportlichkeit nicht immer mit einem bösen Blick verbunden sein muss. Für diese Erkenntnis muss man beim 911 nicht mal den präfrontalen Cortex einschalten.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 54