Das neue Jahr ist noch keine 10 Tage alt, meine Damen und Herren, und hat uns bereits gezeigt, dass die Freiheit der Rede auch im 21. Jahrhundert gegen die Abgesandten des Mittelalters zu verteidigen ist. Und wie jede Freiheit, so wird auch die der Rede am besten verteidigt, indem wir sie nutzen. Und deshalb machen wir jetzt weiter. Ende letzten Jahres ist die Migros City in Zürich nach einer gravierenden Totalüberholung wieder aufgegangen, und da habe ich was für Sie gefunden. Im Migros-Restaurant. Das Migros-Restaurant ist ja seinem Wesen nach unter Restaurants das, was die Lena-Dunham-Biografie für die Welt der Bücher darstellt: eine Leistung, die wir anerkennen, auch wenn wir nicht ganz sicher sind, ob der Aufwand sich gelohnt hat. In der Migros City befindet sich das Restaurant, genau wie früher, ganz oben, bloss sieht es jetzt anders aus, und da ist dieser Stand, den ich für Sie fotografiert habe, da kriegt man: Themen & Gemüse. Super, oder? Zu dieser Kategorie – Themen und Gemüse – fällt mir sofort der Satz ein, den ich neulich in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» gelesen habe, und zwar in einer Besprechung des neuen Buches des Psychoanalytikers und Kulturkritikers und unverbesserlichen Marxisten Slavoj Žižek: «Hegels Nichts ist laut Žižek eher mit den Begriffen der Quantenphysik zu erklären, nach der alle Entitäten aus den Quantenschwankungen der Leere hervorgehen.» How’s that for Themen und Gemüse, huh?
Dann fuhr ich mit der Rolltreppe wieder runter. Ich fahre ja beim Einkaufen grundsätzlich lieber Rolltreppe als Fahrstuhl, weil man dann mehr sieht. Nicht zuletzt mehr, was man vielleicht kaufen könnte. Obschon im Fahrstuhl mehr passiert. Denn glaubt man (wie ich) der kulturtheoretischen Analyse von James Wolcott in der Dezember-Ausgabe von «Vanity Fair», dann ist der Fahrstuhl die letzte Pop-Kabine, das Auge eines Strudels von neueren spätpopkulturellen Dynamiken: In unserer Ära der indiskreten Technologien wird der Fahrstuhl zur Kondensationskammer und Minipsychodramabühne für die Befindlichkeiten und Konflikte des postindustriellen Menschen.
Seit jeher war die Fahrstuhlkabine eine bei Filmkunst und Wissenschaft beliebte Kulisse zur Ausleuchtung von menschlichen Reaktionsmustern unter Einfluss mehr oder weniger primitiver Anreize: Klaustrophobie, Panik, Verbrechen, Verwechslung, Verfolgung, Gruppendynamik, Sex. Während die Fahrt im Lift jedoch noch vor Dekaden eine Art von zivilisatorischen Zombie-Moment darstellte, gefüllt entweder mit schalem Small Talk oder starrem Schweigen und einer Ausweichchoreografie der Blicke, werden wir jetzt nicht nur auch im Aufzug andauernd berieselt (das werden wir schliesslich allmählich allüberall), sondern der Fahrstuhl selbst sendet Szenen und Bilder aus in die Welt. In der Regel geschieht dies über die gezielten Indiskretionen von irgendwelchen Angestellten, die Material aus der Fahrstuhlkamera ins Internet verhökern, diese globale Zentrale der Indiskretion, und dann taucht bei TMZ ein Filmchen auf, in dem Solange Knowles ihre Handtasche gegen ihren Schwager Jay-Z schwingt, und die ganze Welt schaut zu, ob sie will oder nicht (nun, meistens will sie). Wie «Vanity Fair» lakonisch und zu Recht feststellt: «2014 was, among other things, the year of the elevator video.»
Wir werden die Zeiten der zivilisatorischen Zombie-Minuten im Fahrstuhl noch vermissen. Damit aber will ich für heute nicht schliessen, liebes Publikum. Sondern indem ich diesem bunten Strauss von Themen und Gemüse noch eine Blüte in Form eines Ausspruchs von John Cleese hinzufüge. Er lautet: Smart people are not literal minded.
Bis übermorn.