«Ich habe die Pflicht, mein besseres Selbst zu kultivieren», lese ich gerade bei Norbert Bolz, meine Damen und Herren, «und ich habe einen freien Willen, wenn ich in der Lage bin, gegen den Strich der eigenen Vorlieben zu wählen. Wer sich mit seinen Wünschen zweiter Ordnung erfolgreich identifiziert, bildet das aus, was man Charakter nennt; er übernimmt Verantwortung für das, was er will. Jetzt widerfährt ihm das Leben nicht mehr, sondern er handelt. Nicht derjenige, der die Freiheit hat, zu tun, was er will, sondern nur der, der sich fragen kann, ob das, was er will, es auch wert sei, dass er es wolle, kann sich der Freiheit des Willens erfreuen.» Und: «Das kann nur derjenige, der sich nicht von Impulsen treiben lässt.»
Well. Weit davon entfernt war unlängst eine Dame namens Heather Cho. Frau Cho ist die tragische Heldin des sogenannten Nut Rage Incident. Haben Sie bestimmt von gehört. Der Nut-Rage-Vorfall, auch bekannt als Nutgate, ereignete sich am 8. Dezember letzten Jahres am New Yorker Flughafen JFK. Dort nämlich geschah es, dass an Bord einer Maschine der Korean Air in der Ersten Klasse vor dem Start Macadamianüsse serviert wurden, unter anderem auch Frau Cho, der damaligen Vizepräsidentin von Korean Air. Diese zeigte sich nicht erfreut darüber, dass man ihr besagte Nüsse in einem geschlossenen Tütchen überreichte, nicht etwa auf einem Tellerchen. Worüber Frau Cho zunächst den sie bedienenden Flight Attendant tadelte und alsbald Rechenschaft vom Kabinenchef verlangte. Berichten zufolge musste dieser vor Cho niederknien und um Vergebung bitten, während Frau Cho ihn mit einem Tablet misshandelte und anschliessend feuerte. Sowie sein sofortiges Aussteigen verlangte. Was wiederum zur Folge hatte, dass die sich bereits im Taxiing befindliche Maschine ans Gate zurückkehren musste, was eine Verspätung von rund 20 Minuten für die ungefähr 250 Personen an Bord bedeutete.
Was Heather Cho hier an den Tag legte, war ein klassischer Hissy Fit (nicht ihr erster). Mit gravierenden Folgen für ihre Biografie und Karriere und nicht zuletzt auch für Korean Air und die von Familienclans geprägte koreanische Gesellschaft. (Die Ironie liegt darinnen, dass man Frau Cho die Nüsse nach Vorschrift serviert hatte.) Ein Hissy Fit (zusammengezogen aus «Hysterical Fit») bezeichnet jenen kurzzeitigen, explosionsartigen und ziemlich irrationalen cholerischen Anfall, der sich regelmässig an einer vergleichsweise trivialen Ursache entzündet. Hissy Fits, fachsprachlich auch bekannt als «One Minute Nervous Breakdown (OMNB)», werden üblicherweise von Kindern und Diven aufs Parkett gelegt, zwei Gruppen, deren Kommunikationsfähigkeiten oft für eine reifere Art der Konfliktbewältigung (noch) nicht ausgebildet genug sind. «Diva» ist hier zu verstehen nicht als Ausweis irgendeiner Leistung, sondern als Anspruch. Sie wissen schon: Naomi Campbell. Naomi Campbell ist sozusagen der hypostasierte Hissy Fit: schreiend und fusskickend und mit einem diamantbesetzten Mobiltelefon werfend. Mit einem Telefon hat allerdings auch schon mal ein ganzer Kerl namens Russell Crowe zugeschlagen. Auch Männer sind nicht gefeit vor Hissy Fits; namentlich Sportler sind, wohl der Hormone wegen, gefährdet. John McEnroe oder Cristiano Ronaldo: ein einziger Hissy Fit.
Natürlich kann man was dagegen unternehmen: Frau Campbell hat, wie Kanye West oder Donatella Versace, Anger-Management-Kurse absolviert, aber der wirksamste Weg ist: Rehab. Entzug. Die spätmoderne Gesellschaft verzeiht alles, von tätlichen Attacken bis zu homophoben oder antisemitischen Ausfällen, wenn Sie nur sagen, es tue Ihnen Leid, und danach mindestens 14 Tage Entzugsklinik absolvieren. Fragen Sie Mel Gibson. Diese umfassende Rehab-Doktrin ist gewissermassen die Antwort der postindustriellen Wohlfühlgesellschaft auf das christliche Vergebungs- und Läuterungsideal. Wir verschwinden zwei Wochen im Rehabilitationszentrum für irgendwas und auferstehen de-stressed, de-aged und de-toxed. Das ist die zeitgemässe Art der Busse. Auch Heather Cho hat mit den Demutsübungen begonnen: Tränen, gesenkter Kopf, Bitte um Verzeihung, öffentliche Zurechtweisung durch ihren Vater, Cho Yang-ho, Chef von Korean Air. Ausserdem hat Frau Cho die Wohnungen von zwei Flight Attendants aufgesucht, um sich persönlich zu entschuldigen, traf aber niemanden an. Sie hinterliess einen Zettel. Was da drauf stand? Erfahren wir sicher morgen über Google. Bis übermorn.